Der Zukunftsforscher mit einem Lieblings-Megatrend

Ein Mann im grauen Anzug, der vor einem grauen Hintergrund steht. Links ist eine kleine blaue Sprechblase abgebildet in der "25 Jahre artundweise" steht

Harry Gatterer ist Zukunftsforscher am Zukunftsinstitut. Er übersetzt die Entwicklungen der Gegenwart in Megatrends und erforscht, wie sie die Gesellschaft von morgen verändern können. Warum der gelernte Einzelhandelskaufmann weder Möbelverkäufer noch Techno-DJ geworden ist, sondern lieber eine einsame Insel mit der Silver Society teilen würde, erzählt er uns im Interview.

artundweise: Herr Gatterer, was haben Sie 1991, vor 25 Jahren, gemacht?

Harry Gatterer: ‘91, da war ich quasi noch ein Baby. Ich habe eine Lehre zum Einzelhandelskaufmann in der Möbelbranche gemacht. 1994, also mit knapp 20 Jahren, habe ich zusammen mit meinem damaligen Partner ein Wohnstudio eröffnet. Durch meine Selbstständigkeit habe ich mich zum allerersten Mal mit Trends beschäftigt – völlig pragmatisch. Denn: wenn ich mich schon selbstständig machte, wollte ich wissen: Wo muss ich Dinge anders oder neu tun als die Etablierten? Die Trendforschung hat mir da extrem geholfen. Die damaligen großen Namen – Faith Popcorn, Gerd Gerken und dann später Matthias Horx – haben mich unglaublich inspiriert, die Welt anders zu sehen. Das war spannend. Man könnte sagen, es war der Beginn einer Auseinandersetzung mit Trends, die dann aber erst viele, viele Jahre später zu meinem Beruf geworden sind. Dieses Andersbetrachten der Welt um mich herum hat damals begonnen und begleitet mich seither.

artundweise: Mit Matthias Horx arbeiten Sie im Zukunftsinstitut heute geschäftlich zusammen. Haben Sie ihm eigentlich einmal davon erzählt, dass er eine Ihrer Inspirationsquellen war?

Harry Gatterer: Ja, Matthias und ich sind heute nicht nur geschäftlich verbunden, sondern auch eng befreundet. Der kennt die Geschichte und findet das auch ganz lustig, denn bei ihm funktionierte das umgekehrte Prinzip: Er war von meiner Art, Dinge zu tun, immer sehr inspiriert – selbst als wir noch sehr lose verbunden waren. Er hat mich dann sukzessive ins Institut hineingeholt – bis zum heutigen Punkt, wo wir Partner sind und diesen Switch in der Hauptverantwortung gemacht haben. Wir haben uns offensichtlich gegenseitig inspiriert.

artundweise: Wie waren denn die letzten 25 Jahre? Wie sind Sie vom zukunftsinteressierten Inhaber eines Wohnstudios zu einem Zukunftsforscher geworden?

Harry Gatterer: Mit all den Inspirationen zu Trends habe ich damals nicht so sehr einen Möbelladen entwickelt, sondern vielmehr ein Prinzip. Mein Partner und ich haben uns die Frage gestellt: Was tun wir eigentlich genau? Die Antwort: Wir vermitteln Lebensstil und können Menschen dabei helfen, ihre eigenen Sehnsüchte in Bezug auf ihren Lebensstil greifbar und realistisch zu machen. Wir haben ein Prinzip entwickelt und in ein Versprechen verwandelt – und das hat wunderbar funktioniert. Am Ende haben wir zwar Möbel verkauft, aber kaum über Möbel gesprochen.

artundweise: Und aus diesem Prinzip sollte dann mehr werden?

Harry Gatterer: Nach drei oder vier Jahren befeuerte die Industrie genau diesen Gedanken: Unser Prinzip, das völlig neuartig war, in ein Franchise zu verwandeln. Damit bin ich dann auch kläglich gescheitert. Das war frustrierend, aber ich habe gelernt, dass Systeme massive Trägheiten und blinde Flecken haben. Ich habe angefangen zu verstehen, warum Dinge funktionieren – oder eben nicht. Als ich aus dem Franchise-Projekt ausgestiegen bin, war mir klar: Ich will nicht länger Möbel verkaufen.

artundweise: Was wollten Sie denn stattdessen tun?

Harry Gatterer: Ich habe mir eine zweijährige Auszeit genommen, um mich mit den Themen zu beschäftigen, die mich berührt haben. Das waren einerseits Zukunftstrends, andererseits das Verstehen von Zusammenhängen.

Nach und nach bin ich sehr autodidaktisch in die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Gebiete quer eingestiegen: Soziologie, Psychologie und irgendwann – unvermeidbar – landet man bei der Systemtheorie, bei Niklas Luhmann. Ab diesem Zeitpunkt habe ich begonnen, als Freelancer in der Trendforschung zu arbeiten. Ich habe eigene Projekte umgesetzt und sehr eng mit Unternehmen zusammengearbeitet. Mich interessiert das unternehmerische Tun und unternehmerischer Geist. Über die Jahre ist daraus ein Instrumentarium geworden, das ich sukzessive ins Zukunftsinstitut eingebracht habe – zuerst als externer Autor und Referent, später dann als Mitarbeiter und Weiterentwickler dieses Instituts. Es ist ein Wechselspiel zwischen hands-on, dem Sein im Feld, dem Spüren und Wahrnehmen wie es funktioniert, und dem autodidaktischen Studium der Theorie, um die richtigen Beobachtungsebenen zu finden. Genau das habe ich sicherlich in meinen Anfangsjahren unbewusst trainiert.

artundweise: Wenn sie auf Ihr junges Ich in ‘91 zurückblicken: Können Sie sich noch erinnern, was Sie sich von der Zukunft erwartet haben? Ist irgendetwas erstaunlicherweise aufgegangen – oder ganz anders gekommen?

Harry Gatterer: Es sind einige Dinge passiert. Ich habe damals parallel zu meinem Brot-Beruf als DJ gewirkt. Das war grad so die Rave-Phase, die Phase der großen Techno-Szenen, wo ich als DJ ganz gut war. Da habe ich mir überlegt, ob ich mich in meinem erlernten Beruf selbstständig machen oder als DJ weiterarbeiten soll.

Da habe ich mich selbst in die Zukunft versetzt und mich gefragt, wie das Leben als DJ mit 40 Jahren wohl ist.

Dieses Bild hat mir nicht gefallen: Immer nur in der Nacht arbeiten, mit Lärm und Party, immer nur ausgelaugt. Zum damaligen Zeitpunkt, mit 20 Jahren, hätte mir das DJing sicher besser gefallen und ich hätte viele Chancen gehabt. Ich habe mich aber dagegen entschieden.

artundweise: ...und Sie sind in die Selbstständigkeit gestartet.

Harry Gatterer: ...und da habe ich sehr früh die Idee entwickelt, dass es neuer Zugänge bedarf. Dieser Möbelmarkt, um aus dem Pragmatischen heraus zu argumentieren, war damals durch mittelständische Unternehmen geprägt und dann kamen die großen. Also IKEA war bei weitem nicht so verbreitet wie heute. In großen Städten gab es das mal, aber da mussten die Leute schon weit fahren. Mir war aber klar, dass es kommt und: dass es unaufhaltsam war. Der Mittelstand bröselte weg.

Es war also klar, dass es die Wirksamkeit in der effektiven Nische braucht, auf die wir uns so konzentriert haben. Über 20 Jahre später kann man sagen: das stimmt.

Wir haben ganz viele der Zukunftsideen verstanden. Zum Beispiel haben zwei unserer Mitarbeiter ausschließlich mit aufwendigen CAD-Programmen dreidimensionale Welten kreiert. Das war damals so outstanding – niemand hat das gerafft. Wir haben das gemacht – und heute kriegen Sie nur noch 3D-Planung. Das war schon ziemlich geil.

artundweise: Heute, 25 Jahre später sind Sie Geschäftsführer einer Firma, die Unternehmen und Menschen dabei hilft, sich mit der Zukunft zu beschäftigen. Sie stiften Orientierung. Was inspiriert Sie heute, und wie stehen Sie zur „Krise der Prognose”?

Harry Gatterer: Die Krise der Prognose haben wir durchaus immer angesprochen. Genau aus diesem Grund spekulieren wir nicht in harten Prognosen, sondern erklären über systemisches Verständnis Zusammenhänge aus dem Heute, die eine Wirkung auf die Zukunft haben – ohne eine exakte Auswirkung zu beschreiben. Manchmal sind Vorhersagen möglich: In gewissen Zeit-Frames können Sie über Wettervorhersagen reden. Wenn Sie ein System gut verstehen und analysieren können, können Sie auch Zusammenhänge in der Wirtschaft erkennen und in kurzen Zeiträumen von ein bis zwei Jahren prognostizieren.

Aber was Sie nicht können: Ein Bild aus dem Jahr 2035 scharf machen.

Über die Mechanik der Megatrends versuchen wir die Wirkungskräfte der Gegenwart zu beschreiben und ihre Auswirkung auf die Zukunft zu greifen. In dem Zusammenhang inspirieren mich heute Menschen, die imstande sind, diese Gegenwart klug zu betrachten und zu analysieren. Mich inspirieren auch unternehmerische Leute, die einer Idee folgen, die einen Gedanken klargestellt haben, auf dem sie ihr Tun aufbauen und iterativ weiterentwickeln.

artundweise: Gibt es auch eine bestimmte Idee, die Sie inspiriert? Eine Idee, die Sie als neu empfunden haben in den letzten Jahren?

Harry Gatterer: Bei mir hängen die Ideen sehr stark an den Menschen. Wenn ich Michael Braungart und die Idee von „Cardle to Cradle” nehme – das fasziniert mich völlig. Auch Daniel Kerber mit „More than Shelters”, der Idee, Flüchtlingslager zumindest mittelfristig in Städte zu übersetzen und dementsprechend heute die Infrastrukturen vorzubereiten – das finde ich großartig. Das hängt bei mir wahnsinnig stark an den Menschen. Auch Martina Mara, Forscherin aus dem Ars Electronica in Österreich, mit der Idee der Wirkung zwischen Robotik und menschlicher Auseinandersetzung – und ihr Beruf als Roboter-Psychologin.

Wo nur die Ideen bleiben und ich die Menschen nicht mehr spüre, da tu ich mich immer ein wenig schwer.

artundweise: Gleichzeitig steht das Zukunftsinstitut doch durchaus für die elf großen Ideen. Sie beobachten – und destillieren dann. Das ist das Alleinstellungsmerkmal Ihrer Arbeit.

Harry Gatterer: Da haben Sie natürlich recht. Mich interessiert die Idee – ja. Aber mich interessiert auch, welche Weltbeobachtungen und Grundlagen nötig waren, um diese Idee zu haben. Insofern habe ich immer die Sehnsucht danach, diese Menschen zu sehen, zu verstehen und ganz häufig auch mit ihnen in Kontakt zu sein. Am Ende sind es in der Regel hochgradig inspirierende Menschen – inspirierend über die Idee hinaus, für die sie bekannt sind.

artundweise: Was ist eigentlich Ihr Lieblings-Megatrend? Welchen nehmen Sie mit auf eine einsame Insel?

Harry Gatterer: Das ist eine durchaus komplizierte Frage! Was mich zur Zeit am meisten fasziniert, sind zwei Megatrends. Zum einen die Konnektivität, die Idee einer extrem vernetzten Welt – denn das ist mehr als die Digitalisierung.

Eine vernetzte Welt erzeugt Komplexität – und ich bin wirklich angezogen von Komplexität.

Sich in Komplexität zu bewegen, sich dort zurechtzufinden, Muster neu zu sehen, sich immer wieder zu verorten, finde ich unheimlich spannend.

Auf eine einsame Insel würde ich aber wahrscheinlich die „Silver Society” mitnehmen – meines Erachtens ein völlig unterschätzter Megatrend, der auf unterschiedlichsten Ebenen – demografischer Wandel und die Probleme, die damit kommen –, aber nie in seiner Schönheit diskutiert wird. In der Schönheit des Altwerden-Könnens, der Schönheit der Reife, auch der Reife des Geistes im Umgang mit der Welt. Der Schönheit einer neuen Auseinandersetzung mit der Welt, die damit einhergehen kann. Dazu gehört auch die Frage nach der Würde und der Langsamkeit in einem höheren Alter – damit aber durch eine höhere Lebensspanne auch ein breiteres Feld an möglichen Erfahrungen und Erlebnissen, die man machen darf.

Für all das müssen wir unsere Systeme neu justieren. Wenn plötzlich mehr Menschen in ihrer statistisch zweiten Lebenshälfte sind, dann ist das ein Novum für unsere Gesellschaft.

artundweise: Wo wir schon vom Alter und der Silver Society sprechen, dann ist ja die Spezial-Spezial-Frage an den Zukunftsforscher: Was erwarten Sie 2041, 25 Jahre weiter in der Zukunft?

Harry Gatterer: Auf jeden Fall eine ziemliche Verschiebung der Grundlagen. Einmal das gerade angesprochene Thema Silver Society: Sie haben eine deutlich ältere Gesellschaft hier in unserem Umfeld; andererseits gibt es eine Verschiebung auf der gesamten Welt, weil der Mittelstand einfach nach wie vor extrem wächst: Südamerika, Asien, auch Afrika. Und damit haben Sie eine neue Vermessung der Welt. Ich denke, dass das etwas ist, das uns 2041 massiv beschäftigen wird. Wir müssen unseren Umgang mit dem Anderen, dem Fremden noch einmal neu scharfstellen. Was wir heute als Flüchtlingsdiskussion erleben, zeigt, dass wir damit noch keinen Umgang gefunden haben. Es ist eigentlich wie die Vorübung zu einer neuen Weltrealität.

Ich bin davon überzeugt, dass wir an vielen Stellen modernisierter leben werden. Auf den Straßen werden Sie tatsächlich Elektromobilität sehen. Die Art und Weise der Kommunikation zwischen Menschen wird weniger hektisch sein. Momentan leben wir in der Boom-Phase der Digitalisierung – aber in den kommenden 25 Jahren werden wir immer mehr lernen, mit dieser höheren Komplexität umzugehen – und dann werden wir auch wieder Entschleunigungsfacetten erleben.

Auch eine Neujustierung des Begriffs Arbeit. An verschiedenen Stellen werden Maschinen die Arbeit übernehmen können. Die Frage ist dann: Wieviel Arbeit braucht es noch? Und welche Arbeit machen Menschen dann? Damit muss man auch schon rechnen, ohne es jetzt genau scharfstellen zu können. Das sind Themen, die uns in den kommenden 25 Jahren immens berühren und Veränderungen erzeugen werden. In diesen 25 Jahren – das haben wir auch als Megatrend definiert – wird uns der Begriff „Sicherheit” auf allen Ebenen begegnen: Cyber-Sicherheit, reale Sicherheit oder moderne Kriegsführung und Terrorismus. Vielleicht nicht 25 Jahre lang, aber in den nächsten Jahren wird er uns begleiten.

Danke für das Gespräch!

Das Gespräch führte Dirk Beckmann.