Der Banker und das unabhängige Denken

Zeitreisen von 1991 – 2016 – 2041

Folker Hellmeyer ist gelernter Devisenhändler und heute Chefanalyst bei der BLB. Der kompromisslose Finanzdenker liegt mit seinen Marktprognosen regelmäßig quer zum Mainstream, dafür aber richtig. Wir waren neugierig, welchen Einfluss die Digitalisierung aus seiner Sicht auf die Meinungsbildung hat, und überrascht, wie dabei die Hanse als Zukunftsmodell eine Rolle spielt.

Ein Mann im Anzug, der vor einer grauen Wand steht. Links befindet sich eine kleine blaue Sprechblase in der "25 Jahre artundweise" steht.

artundweise: Herr Hellmeyer, was haben Sie vor 25 Jahren gemacht?

Folker Hellmeyer: Vor 25 Jahren hatte ich gerade meinen Wechsel von der Deutschen Bank als Devisenhändler zum Devisenmakler Bierbaum in Düsseldorf vollzogen. Doch genau dieses Modell des Maklers für Finanzgeschäfte im Inter-Bankenbereich ist durch den technologischen Fortschritt geschliffen worden. Das, was früher Menschen getan haben, machen heute Computer. Das heißt, ein Festhalten an diesem Berufsbild wäre nicht zukunftsorientiert gewesen.

artundweise: War das Wirtschaftsgeschehen vor 25 Jahren ehrlicher oder realer?

Folker Hellmeyer: Ich glaube, es war realer, weil der Faktor Mensch immer bei Entscheidungsprozessen zwischengeschaltet war. Heute sehen wir auch hier eine Digitalisierung. Wir haben eine Regulatorik, die digitale Prozesse forciert, und das wiederum hat eine prozyklische Qualität. Was wir in der Wirtschaft brauchen, sind jedoch sowohl prozyklische als auch antizyklische Kräfte. Insofern sind die Wege, die wir im Moment gehen, nicht notwendigerweise eine sinnvolle Lernkurve aus der letzten Krise von 2008.

artundweise: Werden Banker also bald von Computern abgelöst?

Folker Hellmeyer: Das Modell der Banken, in dem ich mich derzeit bewege, hat sich natürlich verändert und wird sich weiter verändern in Richtung Digitalisierung: weg vom Faktor menschliche Betreuung hin zu technischer Betreuung. Anders gesagt vervielfältigt die Technik die menschliche Betreuung, sodass das Modell der Vergangenheit nicht in die Zukunft transportierbar ist. Bezüglich meines Jobs bin ich überzeugt, dass man mit Digitalisierung zwar viel erreichen kann – doch die Komplexitäten und Ineffizienzen der Welt zu erkennen, wird dem digitalen Prozess auf absehbare Zeit schwerfallen. Dies wird mir zumindest bis zur Erreichung des Rentenalters genügend Raum lassen, meinem Beruf nachzugehen.

zwei Männer stehen vorm Aufzug und unterhalten sich

artundweise: Inwiefern befördert Digitalisierung den Mainstream?

Folker Hellmeyer: Die großen Themen der Welt kommen heute in allen Medien zeitgleich an. Sie haben meist denselben Interpretationshintergrund. Anfang der 90er Jahre konnten Sie drei Zeitungen aufschlagen und lasen drei unterschiedliche Kommentare zu einem Ereignis.

Heute lesen Sie fünf Zeitungen und bekommen denselben Kommentar. Das ist auch eine Folge von Digitalisierung.

Digitalisierung bedeutet Abkehr von früheren Geschäftsmodellen im medialen Sektor, vielfach eine Abkehr von den Printausgaben, hin zu den elektronischen Medien – die aber schlechter bezahlt werden. Damit geht ein Qualitätsverlust einher. Die Digitalisierung macht vieles preisgünstiger nach dem Motto: „Geiz ist Geil“. Doch wir wissen, Geiz ist keine Tugend, es ist ein Laster. Und so verbessern Medien als Folge des Geizes heute nicht das Grundmuster unserer Demokratien, die doch Ausdruck des Zeitgeistes der Aufklärung sein sollten.

artundweise: Wieso zieht niemand andere Schlüsse? Konkret: Wieso hat niemand aus der Finanzkrise ab 2008 andere Schlüsse gezogen?

Folker Hellmeyer: Es gibt genügend Leute, die das tun, doch sie werden stigmatisiert. Auch meine Person gehört ein Stück weit dazu. Sie werden mich im Moment in den Mainstream-Medien nicht finden, nur in Spezialmedien, die sich mit den Finanzmärkten beschäftigen. Aber nicht mehr in der „Welt“ oder im „Handelsblatt“. Das nennt man „blacklisted“. Das hat es aber schon einmal gegeben, ich kann damit umgehen.

artundweise: Was ist Ihre eigene Sicht auf die weltwirtschaftliche Gewichtung heute, im Jahr 2016?

Folker Hellmeyer: Die Zukunft der Weltwirtschaft liegt nicht in den USA, sondern dort, wo die Musik spielt – das sind die aufstrebenden Länder. 1990 hatten diese Länder einen Anteil von gut 20 Prozent an der Weltwirtschaft, aktuell sind es über 60 Prozent. Mit unserem europäischen Geschäftsmodell sollten wir uns um diese Märkte kümmern, die derzeit zwischen 4 und 5 ½ Prozent jährlich wachsen. Wir sollten nicht die USA im Fokus haben – ein Land, das sich strukturellen Reformen verweigert und das von hohen Verschuldungen geprägt ist.

artundweise: Sie sprechen oft von der Nivellierung gesellschaftlicher Phänomene, von Modeansichten und Herdenverhalten. Ist das der kulturelle Aspekt von „Geiz ist Geil“? Sind viele Menschen denkfaul geworden oder recherchieren Journalisten zu wenig?

Folker Hellmeyer: Ich glaube, der entscheidende Aspekt ist, dass journalistische Medien Wege gesucht haben, günstiges Personal zu finden. Doch wer überwiegend mit günstigem Personal arbeitet, verzichtet am Ende auf Qualität. Das ist eine entscheidende Größe. Es hat in der Medienbranche durch die Digitalisierung auch einen Konzentrationsprozess gegeben, der dazu führt, dass aus vielen Anbietern unterschiedlichster Couleur nur noch wenige werden. Diese leiten dann daraus auch ein politisches Mandat ab und stehen nahe an den ökonomischen und politischen Machtzentren, um Geschäfte zu machen. Daraus ergibt sich der sogenannte Mainstream.Das ist wie beim Arzt: wenn sie als Arzt eine oberflächliche Diagnose stellen, kann es als Patient letal ausgehen. Die Aufgabe, in die Tiefe zu gehen, fällt dem Journalismus zu. Doch das findet heute nicht statt. Die kritischen Geister kommen nicht zu Wort.

Die Aufgabe, in die Tiefe zu gehen, fällt dem Journalismus zu.

Ein Mann mit kurzen grauen Haaren, der einen blauen Anzug mit Krawatte trägt

Es geht nicht ums Teilen, sondern darum, dass man Gemeinschaft und das Modell der Hanse wiederbelebt. Das Modell der Hanse heißt „Wandel durch Handel“.

artundweise: Sie erwähnen oft das Seidenstraßen-Projekt und meinen, die aufstrebenden Länder Asiens schafften sich dadurch einen Brückenkopf ins Zentrum. Ist Europa das Zentrum?

Folker Hellmeyer: Nein, ich glaube, wir werden zukünftig eine dezentrale Welt mit verschiedenen Clustern haben. Wichtig ist die Anbindung des Technologieparks, der Hidden Champions an die Märkte der Welt unter Umgehung langjähriger Routen über riskante Gewässer. Das bedeutet auch eine Befriedung des Nahen Ostens.

Es geht nicht ums Teilen, sondern darum, dass man Gemeinschaft und das Modell der Hanse wiederbelebt. Das Modell der Hanse heißt „Wandel durch Handel“.Dadurch werden gemeinschaftliche Interessen geschaffen. Wir könnten doch einmal aus der Geschichte lernen. Das schließt auch die Fähigkeit zur Toleranz ein.Das ist der Weg, den wir suchen müssen: Gemeinsam den Weg der Hanse zu gehen. Miteinander Geschäft zu machen, gemeinsame Interessen zu entwickeln, friedenstiftend zu wirken und damit die Prosperität für die Menschen zu erhöhen. Wir sollten wegkommen vom Unilateralismus, in dem ein Land denkt, dass es die ganze Welt beglücken muss. Das ist nicht tolerant, das ist nicht pluralistisch sondern das genaue Gegenteil.Wenn wir den Weg der Hanse gehen, dann werden wir erfolgreich sein. Wenn wir uns in Europa zum Hort dieses Gedankenguts machen und ihn nach außen tragen, dann wird uns Respekt entgegen kommen. Zusammen mit unserer ökonomischen Potenz, mit Toleranz und echtem Pluralismus werden wir uns durchsetzen.Wir müssen uns auch einmal selbst in Frage stellen und erkennen, dass die Ausrichtung der letzten 25 Jahre Jahre falsch war. Denn das heutige Krisenpotpourri ist Ausdruck einer latenten Fehlsteuerung, die wegführte vom Polypol, von langfristiger Bilanzierung und hinführte zu noch mehr Unilateralismus.

artundweise: Sehen wir in 25 Jahren, 2041 die Vereinigten Staaten von Europa?

Folker Hellmeyer: Ich hoffe ja. Wir sehen die Welt in ihrer Komplexität immer mehr in Blöcke zerfallen. Zur Durchsetzung unserer europäisch-humanistischen Agenda brauchen wir eine bestimmte Größe. Mit 330 Millionen Menschen sind wir kein großer Teil der Welt. Wenn wir Deutschland mit 80 Millionen Einwohnern betrachten, wird deutlich, dass wir allein nicht in der Lage sein werden, unserer Agenda eine Stimme zu verleihen. Wir sind dazu gezwungen, uns zusammenzuschließen. Europa ist ja geografisch definiert – Russland gehört übrigens dazu, das möchte ich hier betonen.

artundweise: Befördert die digitale Zeit nicht genau das Gegenteil von Solidarität– eine extreme Selbstbezogenheit?

Folker Hellmeyer: Ja, das tut sie – und eine Oberflächlichkeit, denn durch Digitalisierung werden wir permanent überschwemmt mit Information. Eine Selektion dessen, was wichtig ist und was unwichtig, findet nicht mehr statt. Wir befinden uns im Bereich der Facettendiskussion und nicht der notwendigen Diskussion der Ursachen.

Viele Menschen sind heute gar nicht mehr daran gewöhnt, eine gründliche Analyse zu machen – das was man früher Abstraktionsfähigkeit nannte.

artundweise: Das wird verstärkt durch den confirmation bias, also die menschliche Tendenz, nicht zu analysieren sondern nach Bestätigung dessen zu suchen, was man sowieso schon weiß. Das verstärkt aber die Filter-Blase, in der wir uns alle bewegen. Vielleicht sind Menschen gar nicht so narzisstisch geworden, sondern der Narzissmus wird heutzutage nur optimiert bedient.

Folker Hellmeyer: So ist es, denn daran hängt auch Business. Lassen Sie uns endlich begreifen, dass Business und Werte nicht unbedingt zusammenhängen.

Ich habe mich – als Beispiel – aus allen elektronischen Medien abgemeldet. Ich versuche, so wenige elektronische Spuren zu hinterlassen, wie möglich. Ich habe meine eigenen Selektoren, die auf Erfahrungen basieren. Ich lese die chinesische, amerikanische, britische und europäische Presse, um mir ein Bild zu machen. Aber ich versuche, keine Spuren zu hinterlassen, weil ich nicht will, dass man mich zuschüttet.Ich möchte Raum zur Reflexion haben, das ist mir unendlich wichtig.Mein Handy ist oft ausgeschaltet, weil ich mir eigene Gedanken machen möchte. Ich möchte nicht repetieren, was andere denken. Ich erlebe sehr häufig, dass Gedanken übernommen werden. Irgendetwas klingt gerade chic, ist en vogue, wird so gemacht. Für ein Land der Dichter und Denker ist das unzureichend.

artundweise: Andererseits gibt es ausgehend von „slow food“ bis zu „slow business“ einen Trend der Entschleunigung. Denn es gibt viele Menschen, die sich von der Informationsflut überfordert fühlen.

Folker Hellmeyer: Weniger ist mehr. Die Reizüberflutung, der wir ausgesetzt sind, schafft im Grunde den eigenen inneren Filter ab. Ich kämpfe Tag für Tag dafür, dass mein innerer Filter funktioniert, indem ich selektiv bin. Ich beschäftige mich im Wesentlichen mit Daten, doch ich lese nicht jeden Nonsens. Wichtig sind Wissen, Erfahrungswerte und Raum für Reflexion. Kürzlich habe ich einen Top-Manager in Lissabon getroffen. Wir saßen bei einer Tasse Kaffee, und er sagte: „Herr Hellmeyer, ich hab immer einen kleinen Block dabei. Und wenn ich zur Ruhe komme, und reflektiere, schreib ich den Gedanken sofort auf. Häufig vergisst man ihn ja sonst. Nach einem Monat sammle ich die Zettel und gehe sie noch einmal durch. Dann sind die Gedankenstränge verankert.“

Ich mache es ähnlich und diese Räume für Reflexion sind die Grundlage, um Dinge abstrakt zu durchdenken. Nehmen wir als Beispiel US-Immobilienkredite in den Jahren von 2004 bis 2007. Wenn sie ein Prozent mehr kriegen, als der Markt zahlt, bezahlen sie damit ein Risiko. Punkt.Wenn dann AAA drauf steht, muss man es eben dreimal hinterfragen.Man konnte ab 2004 wissen, dass das, was drauf stand, nicht drin war.Das ist eine Auswirkung der Reizüberflutung: Alle machen es, also machen wir es auch. Das ist Gruppendynamik, keine Analyse, keine Reflexion.

Ich kämpfe Tag für Tag dafür, dass mein innerer Filter funktioniert, indem ich selektiv bin.

Wir müssen schlanker werden, damit die nächste Generation immer noch das Grundmuster der sozialen Marktwirtschaft erleben darf.

artundweise: Der Aufruf zu mehr Selbstständigkeit und Eigenverantwortung scheint eine Ursache zu sein, dass Menschen sich heute überfordert fühlen.

Folker Hellmeyer: Das Leben ist ein Kampf, und soziale Marktwirtschaft heißt nicht, alles ist nett in Perfektion. Soziale Marktwirtschaft heißt, dass denen, die in einer Gesellschaft verunfallen, die Möglichkeit gegeben wird, wieder aufzustehen. Genau das tun wir nach wie vor. Die Eurozone hat einen Anteil an der Weltwirtschaft von 12 Prozent. Doch 60 Prozent aller Sozialleistungen weltweit werden in Europa ausgezahlt.

Wir müssen aber das Leistungsspektrum in ein Gleichgewicht bringen, um den Sozialstaat, den wir haben, auch weiterhin zu finanzieren. Wir müssen schlanker werden, damit die nächste Generation immer noch das Grundmuster der sozialen Marktwirtschaft erleben darf. Diejenigen, die heute immer für mehr sprechen, verweigern der kommenden Generation Zukunftssicherheit.

artundweise: Was hält die Zukunft für Europa bereit?

Folker Hellmeyer: Wir stehen jetzt vor der Herausforderung Industrie 4.0. Europa hat die meisten Hidden Champions und 1300 von 2700 kommen aus Deutschland. Aber wir werden den Stand nur halten, wenn wir latent den Erneuerungsprozess in den Unternehmen so leben wie in den letzten Jahrzehnten seit 1945.

Ich glaube, dass es eine Neuorientierung gibt.Ich bin der festen Überzeugung, dass die entscheidende Größe die Eurozone sein wird. Nicht mehr die EU, sie kann sich verändern:durch Erweiterungen, jetzt durch den Brexit potenziell mit Verringerungen. Ich halte es für unproblematisch, wenn die EU zerfällt in die EU1 und EU2. Sie wird weiter einen rechtlichen Rahmen für die Eurozone bieten, aber die entscheidende Größe wird die Eurozone sein und die gilt es integrativ zu vertiefen. Und wenn wir das 2041 machen, dann werden wir ein Europa haben, das alle überraschen wird.Die Determinanten verändern sich. Ich weiß, der Schlüssel, der mir den Erfolg für gestern gebracht hat, passt an der Tür für morgen wahrscheinlich nicht. Doch ich glaube, das werden die jungen Leute schon lernen. Ich bin guter Dinge, dass sich da genügend Elite herausbilden wird, die die Dinge durchschaut und die im ökonomischen Zusammenhang alternativ denken kann.

Danke für das Gespräch!