Wie Affective Computing das Marketing revolutionieren wird

Du siehst unglücklich aus, kauf dir jetzt diese neue Schokolade!

Ein weinendes Baby neben einem traurigen Smiley vor einen blauen Hintergrund. Das Baby hat ein weißes Netz aus Punkten und Strichen im Gesicht.

Nach Feierabend stehen viele Menschen im Supermarkt und können sich einfach nicht entscheiden, was sie kaufen sollen. Da wäre es doch hilfreich, wenn das Supermarktregal jeder Person anhand des geschätzten Geschlechts, der Körpersprache und dem Gesichtsausdruck ein passendes Produkt vorschlagen würde. Biometrisches Offline-Marketing sozuagen. Klingt unheimlich?

Was online in Form von Behavioral Targeting längst zum Marketing-Tagesgeschäft gehört, soll jetzt auch Out-of-Home funktionieren. Der Einzelhandel erprobt bereits personalisierte Videowerbung in Warteschlangen. Ein in Warte- und Kassenbereichen angebrachtes Werbe-Display zeigt passend zum erkannten Geschlecht und Alter der Zuschauer den entsprechenden Video-Clip: Junge Frauen bekommen Kosmetikartikel gezeigt, Senioren sehen Bierwerbung und Kinder Süßigkeitenreklame. 

Einzig ein Hinweis zu „Kameraüberwachung“ klärt die Konsumenten auf, dass sie während der Wartezeit an der Kasse gefilmt werden. Dass ihr Alters- und Geschlechts-Profil ermittelt wird, erfahren sie nicht.

Heute: Personalisiertes Offline-Marketing

Wie funktioniert das? Eine Kamera nimmt das Gesichts- oder Körperprofil auf. Eine Analysesoftware erkennt daraus ein Muster, das mit bestehenden gesammelten Daten abgeglichen wird. Das Programm erkennt dadurch, wer da vor dem Videodisplay steht. Auf Grundlage der Auswertung wird der Person ein Inhalt gezeigt, der für dieses Personenprofil besonders relevant sein könnte. Außerdem misst das System, wie lange eine Person auf das Display schaut.

Die Software hinter dieser Methode heißt adpack von der Firma IDA Indoor Advertising. Diese gibt zwar an, die gesammelten Daten ad hoc zu anonymisieren, die Bilder der Personen umgehend zu löschen und lediglich die erkannten, wiederkehrenden Muster zur Auswertung zu nutzen. Durch das unabhängige ePrivacy-Siegel hat sie sich das Verfahren sogar datenschutzrechtlich zertifizieren lassen. Trotzdem ist der Einsatz dieser neuen Werbestrategien im öffentlichen Raum nicht unumstritten.

Die Datenschutz-Initiative Digitalcourage hat das Verfahren strafrechtlich angezeigt, Datenschutzbeauftragte mehrerer Bundesländer sehen es ebenfalls als grenzwertig an. Das Landgericht Düsseldorf prüft, ob das Filmen von Kunden zu Verkaufszwecken rechtmäßig ist. Personalisiertes Offline-Marketing trifft eine rechtliche Grauzone.

Gesichtserkennungsoftware ist nicht der einzige Weg, um Näheres über die Kunden in Ladengeschäften herauszufinden. Andere Firmen werten bereits die WLAN-Signale von Kunden aus, erstellen dadurch Wärmebilder der Entscheidungswege bis zum Kauf und erlangen so Erkenntnisse über die Customer Journey vor Ort. So wird auch offline erkennbar, ob eine Marketing-Strategie, ein Verkaufsbanner oder eine besondere Aktion zu mehr Conversions führt. Einzelhändler können mit diesem System ihre Verkaufsstrategie nach dem erfassten Kundenverhalten ausrichten und auf Basis der ermittelten Daten anpassen.

Morgen: Empathische Technologie

Das Prinzip ist immer dasselbe: Daten werden erfasst, Computer verarbeiten diese, Algorithmen erkennen Muster und ziehen daraus Schlüsse, die je nach Ziel eine leicht veränderte Kommunikation bewirken. Dieses Prinzip nennt sich „Affective Computing“ und gehört zum Bereich der Künstlichen Intelligenz. Mithilfe eines dazulernenden Systems werden Daten über menschliches Verhalten gesammelt, ausgewertet und entsprechende Konsequenzen daraus gezogen. Sensorische und „intelligente“ Systeme zur Mustererkennung, die aus Daten Handlungen ableiten können, stehen bereits kurz vor der Marktreife.

Begonnen hat die Entwicklung 2009 in einem kleinen Forschungsprojekt am MIT Media Lab in Boston, USA. Daraus ist mittlerweile Affectiva Inc. geworden, ein profitables Startup, das einerseits namhafte Firmen mit seinen wertvollen Forschungserkenntnissen beliefert, andererseits den Quellcode der Emotionserkennungssoftware aber auch Entwicklern frei zur Verfügung stellt. Der potenzielle Anwendungsbereich dieser intelligenten Software erstreckt sich von Werbung und Marketing über Gaming, Automotive, Robotik, Internet der Dinge sowie Bildung bis hin zum Gesundheitswesen. In ihrem TED-Talk von 2015 sagt die Affectiva-Gründerin Rana el Kaliouby, sie sei sich des Missbrauchspotenzials ihres Geschäftsfelds durchaus bewusst, die Vorteile empathischer Technologie für die Menschheit würden allerdings weit überwiegen.

Übermorgen: Der emotionsgesteuerte Software-Assistent

Im Film „Her“ von Spike Jonze verliebt sich der Protagonist in das körperlose Assistenzprogramm „Samantha“, weil sie ihn angeblich am besten versteht. Aus der einseitig funktionalen Beziehung von Mensch und Computer wird eine beidseitig emotionale. Der Mensch geht eine Liebesbeziehung zu einer Computersoftware ein. Was uns jetzt noch wie Science Fiction vorkommt, wird vermutlich bald zum Alltag gehören.

Schon jetzt machen uns persönliche, digitale Assistenten wie Siri, Alexa und Cortana vor, in welche Richtung sich Affective Computing entwickeln könnte. Der Algorithmus der Software lernt dazu und je nach Tagesform wird die Anrede des Gegenübers ein wenig angepasst. Die Programme werden sensibel für unsere Stimmungen und gehen gezielt auf unsere Wünsche ein. Über die Smartwatch wird der Puls gemessen, über die Tonhöhe der Ansprache erfasst, wie auf- oder angeregt man ist. Die sensible Interpretation des Gemütszustands, bewirkt die Anpassung der Botschaft, welche genau auf die Situation zugeschnitten ist.

Ausblick: Affective Computing im Marketing

Jeder Statistik über die Gesellschaft liegen Erkenntnisse über Alter und Geschlecht der Befragten zugrunde – also personenbezogene Daten. Eine gängige Methode zur Zielgruppenermittlung im Marketing ist die Erarbeitung von Personas. Einfühlungsvermögen ist im Marketing das wichtigste Kriterium, um die Lebenslage, Einstellungen und Wünsche der Kunden nachvollziehen zu können. Dabei helfen zukünftig technische Messverfahren, weil sie ein immer genaueres Nutzerprofil der Zielpersonen generieren können und Aufschluss darüber geben, was die Kunden wollen.

Natürlich kann man noch sehr viel mehr Daten erfassen, die ein noch präziseres Bild von Personen zeichnen. Allein der Tonfall der Stimme, die Gestik und die Mimik lassen Rückschlüsse auf das allgemeine Befinden einer Person zu. Kommen noch Lügendetektor, Pulsmessung, Hormonspiegel und Bodymassindex hinzu, kann man sich vorstellen, wieviel gezielter Kunden-Bedürfnisse noch angesprochen werden könnten. In welchem Umfang man in Zukunft Daten über die Kunden zum Verkaufszweck sammeln darf, muss die Rechtsprechung entscheiden. Fakt ist, dass jede zusätzliche Information, um Kunden den Wunsch von den Lippen abzulesen, für diese extrem komfortabel und für Personalisiertes Marketing zielführend ist – online wie offline.